Das soziale Gewissen der Donaumonarchie

Über vergessene Literatur des Fin de Siècle

                                                                                                            von Rudolf Kraus

 

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ie Habsburgermonarchie Österreich-Ungarn brachte eine Vielzahl bedeutender Schriftsteller und bildender Künstler hervor, besonders in der Zeit um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert, die durch den Begriff Fin de Siècle berühmt geworden ist. Viele Autoren dieser Zeit sind in die Weltliteratur eingegangen und auch heute durch ihre Literatur präsent. Joseph Roth,  Hugo von Hofmannsthal, Ödön von Horvath, Karl Kraus, die Kaffeehausliteraten Alfred Polgar und Anton Kuh, Arthur Schnitzler und viele andere mehr haben diese Zeit literarisch geprägt und sind zum Großteil auch heute noch im Buchhandel erhältlich. Doch gab es zu dieser Zeit Schriftsteller, die sehr wohl damals bekannt waren und gelesen wurden, deren Name oder Werk in Vergessenheit geraten ist.

In den neunziger Jahren haben einige Verlage begonnen, Texte von vergessenen Autoren der Habsburgermonarchie herauszugeben oder längst nicht mehr zugängliche Texte von Schriftstellern, die sehr wohl die Zeiten überdauert haben, zu veröffentlichen. Besonderes Verdienst hat sich dabei der Salzburger Residenz-Verlag erworben, der in der Reihe „Eine österreichische Bibliothek“ viele längst vergessene Schriftsteller somit zum Leben erweckt. Doch auch einige deutsche Verlage brachten und bringen immer wieder altösterreichische Literatur heraus, wobei der folgende Titel zwar keinen vergessenen Autor betrifft, jedoch Prosa enthält, die uns zum Teil schon lange vorenthalten war.

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er Name Peter Altenberg ist eng verbunden mit dem Begriff „Kaffeehausliteratur“, man könnte sogar meinen, er sei der Inbegriff dieser Literatur. In den letzten Jahren sind verstreut nur wenige Texte von ihm in Buchform erschienen, unter anderem das vorliegende Werk, das für Altenberg typische Kurzprosatexte über die Sommerfrische enthält. Die Sommerfrische war in der Habsburger Monarchie eine spezielle Form von Urlaub, die von Adeligen und wohlhabenden Großbürgern betrieben wurde, wobei es sich dabei um einen Zweitwohnsitz handelte, der vor allem die Thermenregion von Baden, Bad Vöslau und Bad Fischau, das Semmeringgebiet und das Salzkammergut betraf. Peter Altenberg hielt sich in all diesen Gegenden auf und aus diesen Aufenthalten sind die vorliegenden Prosaskizzen entstanden.

Die Themenpalette reicht von reinen Naturbeschreibungen, Begegnungen mit verschiedenen Menschen bis hin zu seiner beliebtesten Materie, der autobiographisch gefärbten Prosaskizze. So schwärmt er einmal von der körperlichen Ertüchtigung, vom gesunden Leben, für das er als Trinker nicht gerade stand, und verliert sich immer wieder in poetischen Gedanken über die Schönheit und Vollkommenheit der Natur.  Viele dieser Texte verraten Details über die Psyche des Menschen Altenberg, der zeit seines Lebens aufgrund seiner überempfindlichen Nerven keiner festen Beschäftigung nachging  und sein Leben in Kaffeehäusern und Hotels verbrachte, das moderne Leben niederschrieb und als rebellischer Bohemien berühmt wurde. Er selber nannte seine Literatur ‘Extrakte des Lebens’. Zu Lebzeiten veröffentlichte er 13 Bücher bei S. Fischer, aus denen auch die vorliegende Auswahl zusammengestellt wurde. Da der S. Fischer Verlag die geplante fünfbändige Werksausgabe bisher nur bis zum 2. Band verwirklicht hat, sind mit diesem Buch einige Texte zum ersten Mal seit ca. 100 Jahren wieder zugänglich und es lohnt sich, dieses Stück Altösterreich zu genießen.

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ie Reihe „Eine österreichische Bibliothek“ des Residenz-Verlages wird mit dem vorliegenden Band wieder um ein Stück Literaturgeschichte bereichert. Friedrich Schlögls Beschreibungen Wiens und der Wiener aus der Zeit zwischen 1848 und 1892, dem Todesjahr des Autors, sind einerseits getragen von einem liberalen, aufklärerischen Ansatz des Verfassers, der selbst ein begeisterter Anhänger der revolutionären Ideen der 48er Generation war, andererseits stellt er schonungslos die unpolitische und unsensible Vergnügungssucht der Wiener dar, egal ob es nun das Großbürgertum, der untere Adel oder die Ärmsten der Gesellschaft sind.

Schlögl zitiert die Leute in ihrer Sprache sprich im Wiener Dialekt, der ja sehr derb und bösartig sein kann, und schafft in seinen Geschichten und Beschreibungen eine lebensechte Stimmung und ein historisch korrektes Szenario der K. & K. Weltstadt Wien, die vom Vielvölkerstaat genauso geprägt war wie von den sozialen Gegensätzen. Neben Adel und Großbürgertum, Kleinbürger und Beamten existierten und vegetierten Arbeiter, Bettler, Krüppel und Obdachlose aller Art in der Habsburgermetropole.

Friedrich Schlögl beschreibt aber nicht nur Leute und Zustände, sein geschärfter Blick wendet sich politischen und gesellschaftlichen Problemen ebenso zu. Seien es die katholische Kirche oder die Freß- und Saufsucht der Wiener, die Sensationslust der Masse bei einer Hinrichtung oder die Darstellung der Herren Biz und von Grammerstädter, beide wohlhabend, unpolitisch, der eine bildungsfeindlich und unterhaltungssüchtig, der andere ignorant und hochnäsig, die spitze oft giftige Feder des Autors beschönigt nicht und verschont auch nicht. Kein Wunder, daß man Friedrich Schlögl als Vorgänger Karl Kraus’ bezeichnet, obwohl er gänzlich auf stilistische Feinheiten verzichtet und auf den Dialekt setzt, der den Figuren bei weitem mehr Lebendigkeit, Drastik und Direktheit verleiht.

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ie hier erstmals dem deutschsprachigen Publikum zugänglichen Skizzen aus Wien des slowenischen Nationaldichters Ivan Cankar stammen aus den Jahren 1900 - 1914 und beschäftigen sich vorwiegend mit den Lebensverhältnissen und -bedingungen in den Wiener Vorstädten, in einer Zeit, bevor das „rote Wien“ Akzente gegen das soziale Elend setzen konnte.

Cankars Novellen und Skizzen sind getragen von Bitternis und Hilflosigkeit, seinen Figuren kommt zuweilen jegliche Handlungsfähigkeit abhanden, da es aus der Ohnmacht und Aussichtslosigkeit ihrer endlosen Armut kein Entrinnen gibt. „Pavliceks Krone“, die Titelgeschichte, ließ mich schwer schlucken, wie die ausgehungerte Kreatur Pavlicek beim Versuch, eine Krone zu erbetteln, die er für ein Geschenk zum Namenstag seines Sohnes bräuchte, scheitert und schlußendlich zum ertappten, geschlagenen Dieb wird.

Cankars Erzählungen zeichnen eine Wiener Vorstadt, die von Arbeitern, Zuwanderern und Künstlern bewohnt wird, denen eines gemein ist : das Elend. Der habsburgische Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn versagte an seinen Rändern. Die Vorstadt als quasi innerer Rand verdeutlicht hier die sozialen und politischen Versäumnisse der Monarchie. Wo die Realität nichts mehr zu bieten hat, kann nur mehr Flucht helfen. Bei Ivan Cankar endet diese Flucht entweder in Träumen, Gedanken und kleinsten Freuden oder im Tod.

Seine politische Haltung (er war zeitlebens ein Verfechter des „Jugoslawismus“, der die Idee einer Vereinigung aller südslawischen Völker zum Ziel hatte) brachte ihm in seiner Heimat Slowenien mehr Zwiespalt als Achtung ein. Trotzdem gilt er heute noch als Nationaldichter Sloweniens, obwohl er im ehemaligen Jugoslawien gerade für seine politische Haltung verehrt wurde.

Dieses Buch kann einerseits als historisches Dokument eines Teilbereiches des alten Wien gelesen werden, andererseits wird durch die Lektüre Ivan Cankars der Blick auf die Ursprünge des Balkankonflikts etwas klarer.

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ie Novellen Jakob Julius Davids, der einerseits dem österreichischen Realismus zugeordnet wird, andererseits von Joachim Schondorff als einziger Wiener Naturalist bezeichnet wird, gehören zum feinsten seiner Erzählkunst und stehen oftmals für die Verbindung von Dorfgeschichte und Fin-de-Siècle-Stimmung, die von einer besonderen Schwere gekennzeichnet ist. Der Autor, ein mährischer Jude, war zeitlebens von körperlichen Beschwerden und Krankheiten begleitet. So wurden auch meist schwache Menschen zu seinen Hauptfiguren und die mährische Kindheit taucht immer wieder durch Bilder einer unzerstörten, natürlichen Welt fernab der Metropole Wien in seinen Novellen auf. In Hanna überredet der Landschaftsmaler Petersilka seine Frau Hanka, ihn für einen Akt Modell zu sitzen. Als das Bild fertig ist, will er es in einer Ausstellung zeigen. Hanka ist darüber entsetzt, daß ein fremder Mann ihr Bild kaufen könnte und flüchtet in den Freitod. Das Bild verschwindet in einer Kiste, wird nie von jemanden gesehen. Der Maler aber malt weiter, Landschaften, nur mehr Landschaften.

In Schuß in der Nacht löst der Selbstmord des Rumpler Karls gemischte Gefühle bei seiner Witwe und einigen Nachbarn aus. Einerseits wird klar, daß hier einer aus einer nicht mehr intakten Ehe gewaltsam geschieden ist, auf der anderen Seite steht die Ratlosigkeit und der Schock ob dieser endgültigen Tat.

Die Entfremdung von der Heimat, von den Lebensvorstellungen sind die Kernthemen Davids. Hierin spiegeln sich autobiographische Details, da auch er mit diesen Problemen zu kämpfen hatte, unter anderem mußte er sein Leben lang journalistisch arbeiten, um genug Geld zum Leben zu verdienen.

Ähnlich wie bei Friedrich Schlögl und Ivan Cankar porträtiert Jakob Julius David die Menschen Wiens, jedoch mit dem Unterschied, daß er seine Novellen eher im Kleinbürgertum ansiedelt.

Es ist auf jeden Fall eine Lesetour wert, diesen Autor zu entdecken, wobei seine Novellen nur einen kleinen Teil seines umfangreichen Schaffens darstellen.

 

 

Bibliographie :

 

Altenberg, Peter: Sommerabend in Gmunden. Szenen und Skizzen zwischen Semmering und Salzkammergut. Hrsg. v. Burkhard Spinnen. Frankfurt : Schöffling & Co., 1997. 122 S.

 

Schlögl, Friedrich: Wiener Blut und Wiener Luft. Skizzen aus dem alten Wien. Salzburg [u.a.]: Residenz-Verl., 1997. 253 S.

 

Cankar, Ivan: Pavliceks Krone. Literarische Skizzen aus Wien. Klagenfurt : Drava-Verl., 1995. 189 S.

Aus dem Slowen. übers. von Erwin Köstler.

 

David, Jakob Julius: Novellen. Salzburg [u.a.] : Residenz-Verl., 1995. 293 S.

Mit einem Nachwort v. Konrad Paul Liessmann.

 

Wiener Zeitung, Extra, 31. Juli 1998

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