Vampire, Monstren, Phänomene

Die Faszination des Unerklärlichen · ein Überblick

Von Rudolf Kraus

Ungeheuer, Untote, seltsame Wesen und mysteriöse Erscheinungen haben seit jeher die Menschheit in Schrecken wie auch in Bann versetzt. Die Angst und der Schrecken vor dem Unerklärlichen, dem nicht Faßbaren sind auch der Nährboden für den Mythos der Monstren und Phänomene. Ob literarische Geschöpfe wie Graf Dracula von Bram Stoker oder die grauenvollen kosmischen Ungeheuer des H. P. Lovecraft, sie haben eines gemeinsam: sie faszinieren eine riesige Fangemeinde. Werwölfe, Vampire, Trolle und Dutzende andere Monstren spuken seit Menschengedenken durch die finsteren Gänge unserer Gehirne. Jedoch haben es einige dieser Wesen geschafft, mit Hilfe der Literatur eine gewisse Ästhetik zu erlangen. Gerade Vampire, ob weiblich oder männlich, üben nicht zuletzt durch ihre gottähnliche Stellung, die Macht über Leben und Tod bedeutet, eine große Anziehungskraft aus. Der Versuch, mysteriöse Vorfälle und von Menschenauge wahrgenommene Monstren wissenschaftlich zu untersuchen bzw. zu deuten, ist in den meisten Fällen fehlgeschlagen. Entweder war das Material nicht ergiebig genug, um eine schlüssige Analyse zu liefern, oder man konnte nur auf Mutmaßungen aufbauen, die keine seriöse Lösung möglich machen. Die hier vorgestellten Bücher durchleuchten dieses Thema sowohl literarisch als auch literaturwissenschaftlich und kulturhistorisch.

Hans Richard Brittnachers „Ästhetik des Horrors" ist in doppelter Hinsicht eine enorme Bereicherung für die Literaturwissenschaft. Erstens bietet er eine umfangreiche, um viele neue Aspekte erweiterte Darstellung der wichtigsten Motive der fantastischen Literatur. Zweitens führt dieses Buch zu einer gewissen Rehabilitierung der in der Literaturwissenschaft größtenteils verpönten Fantastik. Brittnacher erklärt die Bedeutung der menschlichen Ängste, des Entsetzens, des blanken Horrors vor dem Unbekannten und Unerklärten oder Unerklärbaren, die vor allem von der Aufklärung negiert wurden, anhand etlicher fantastischer Werke, die größtenteils noch nie von der Literaturwissenschaft wahrgenommen wurden. Der Autor kann zu jedem der von ihm untersuchten Motive neue Erkenntnisse anbieten oder zumindest Mißverständnisse beseitigen.

Sehr wesentlich empfinde ich seine Definition von Geistern und Gespenstern, die ja oftmals gleichgesetzt werden. Er besteht auf einer generellen Trennung, die er aus mythologischen Quellen erklärt.

Aber auch die Logik und die Psychopathologie kommen nicht zu kurz. Vom körperlosen Geist über die facettenreiche Darstellung des Vampirstoffes bis zu den Monstren, die heute eine Renaissance im Film erfahren, spannt sich der Bogen.

Das Monstrum selbst ist in der Literatur bei weitem seltener behandelt worden als der untote Vampir, der von seiner Ausstrahlung und gottähnlichen Macht, die zwischen Leben und Tod schwebt, ein vielschichtiges, ergiebiges Thema verkörpert, das von Mythen, Variationen und Spekulationen nur so strotzt. Das Monstrum und im speziellen der Werwolf leidet unter seiner Normalität. Er bleibt ein Mensch, der nur während bestimmter Mondphasen eine Metamorphose erfährt, und bereits eine geweihte Silberkugel reicht aus, um ihm den Garaus zu machen. Hans Richard Brittnachers Studie stellt eine wertvolle Bereicherung für die mit Sekundärliteratur nicht gerade überhäufte Fantastik dar. Empfehlenswert nicht nur für literarisch Interessierte, Schüler und Studenten, sondern auch für all jene, die sich mit dem Phänomen Angst beschäftigen.

Klaus Hamberger führt in seiner kulturhistorischen Dokumentation des Vampirismus zwischen 1689 und 1791 zu den Spuren einer Seuche, die in den Gebieten von Serbien, Mähren, Schlesien und Siebenbürgen zahlreiche Opfer gefordert hat. Die Nüchternheit, mit der Hamberger an das Thema herangeht, verleiht dem Buch einen zusätzlichen Reiz und vor allem eine ernstzunehmende Seriosität. Als Quelle für Mythen und Fantastereien dient jene Unverweslichkeit, die als Merkmal dieser Vampirismusseuche diagnostiziert wird, bei den Leichnamen, die nach der Graböffnung festgestellt wurden. Der Ausbruch der
Seuche wurde ebenfalls mit all seinen Symptomen festgehalten. Berichte von Kranken über nächtliche Heimsuchungen von unverwesten Toten verursachten die Ausbildung eines Vampirtraktats, der vor allem in der Romantik zu einer Ausformung des Vampirbildes in der Literatur mit all seinen Feinheiten führte. Die Kirche nimmt den Aberglauben über Vampire auf und setzt den Vampir in Verbindung mit dem Teufel, um so die Inquisition anwenden zu können. Erst als die Krankheit allmählich verschwindet, erreicht der Vampir seine vielfältige Ausformung: als Bezeichnung für Despoten, als romantischer Held und Teufel, als heimsuchender Untoter im Aberglauben der Menschen und nicht zuletzt als Untersuchungsobjekt der Wissenschaft.

Klaus Hamberger führt mit „Mortuus non mordet" auf eine neue, kaum betrachtete Schiene der Vampiruntersuchung und bereichert somit dieses Thema ungemein.

Ganz anders geartet ist der großformatige Bildband „Mysteriöse Lebewesen", der sich an Mythen und Legenden aus aller Welt orientiert und in Text und Bild eine vielfältige Übersicht liefert. Im
Vordergrund stehen die populärsten Ungeheuer wie der Drache, der Werwolf und die Meeres- und Seeungeheuer. Auch in diesem Buch werden Thesen aufgestellt, bzw. übernommen, wonach viele Vorstellungen von Monstren einerseits vom Aberglauben, anderseits von Krankheiten wie Tollwut herrühren, die etwa beim Werwolf durch den Biß eines tollwütigen Wolfes zu Wahnvorstellungen führten. Mit einem recht umfassenden Kapitel über Loch Ness und die Ungeheuer Irlands schließt dieser Band, der eine nicht zu verachtende und auch günstige Ergänzung zu diesem Themenbereich darstellt.

Ein wunderschöner, reich illustrierter und bibliophiler Band über jene sagenhaften Wesen der Trolle, die des Nachts über Krankheits- und Schadenzauberkräfte verfügen und den hellen Tag fürchten, leitet die Reihe „Illustrierte Handbücher des Übersinnlichen" im Verlag Gerstenberg mit dem ersten Band ein. Niemand geringerer als Terry Jones, Mitglied der legendären Monty-Python-Truppe, hat die Texte und Auflistungen der Trolle aus dem Labyrinth des Ngorongoro-Kraters unter kräftiger malerischer und grafischer Mithilfe des Brian Froud und des trollischen Künstlers St'ft verfaßt. Nun, eigentlich sind Trolle nicht gerade in Afrika zu finden, ihr angestammter mythologischer Platz ist der Norden. Zum einen sind die Berge ihre Wohnstatt, wo sie als Unholde in Riesengestalt den Menschen Schaden zufügen oder mit ihrer Häßlichkeit erschrecken. Neben riesenhaften Trollen in den Bergen wurden auch schon zwergenhafte Schadengeister gesichtet, denen hügeliges Waldland als Heimstätte dient.

Der nordgermanischen Mythologie nach hausten die Trolle in Trollabotnar, der schaurigen Einöde des Polarmeeres und in der Bergwildnis der wilden Lappen und Finnen, die bei den Norwegern als Zauberer verschrien waren. Terry Jones' witzige und unglaubliche Beschreibungen der Trolle, die sich immer weiter vor den Menschen zurückgezogen haben und die bis heute nicht bekannt waren, sprühen vor britischem Humor und werden von den passenden Zeichnungen Brian Frouds perfekt komplettiert. Dieses aufwendig gestaltete Buch ist zudem für einen sagenhaft günstigen Preis zu haben, so daß es eine wunderbare Bereicherung für Fabel- und Sagenfreunde, Tolkienier, Fantasier usw. und ein unumstößlicher Wegbereiter durch die Wirren des Labyrinths der Trolle sein möge.

Die von Arno Löb zusammengestellte Anthologie zum 100. Geburtstag Draculas (gemeint ist damit der von Bram Stoker erdachte Graf Dracula aus Transsilvanien, der als hochgebildeter, lichtscheuer Vampir Generationen von Lesern das Blut in den Adern gefrieren ließ) enthält zeitgenössische Texte von deutschsprachigen Autoren und Autorinnen, die rund um das Vampirmotiv kreisen. Namhafte Erzähler wie Gisbert Haefs, Rafik Schami oder E. W. Heine setzen sich mit dem Phänomen Vampir zwar auf unterschiedliche Weise auseinander, dennoch verbindet alle Geschichten die Tendenz zum Humoristischen.

So beschreibt der Satiriker Robert Gernhardt einen ganz normalen Tag (= Nacht) einer 08/15-Vampirfamilie, während in Herbert Rosendorfers Erzählung Graf Dracula persönlich als müder, uralter Bettler auftritt, der längst seiner Macht entraubt wurde. Immer noch bettet er sich auf siebenbürgische Erde, die er in eine Matratze gefüllt hat. Als Bettler erregt er längst keine Gemüter mehr, nur sein rätselhaftes Verschwinden aus einer verschlossenen Gefängniszelle beschäftigt Polizei und Justiz. „Draculas Rückkehr" wird zwar kaum jemandem Gänsehaut erzeugen, dafür erfährt man so manche vampirische Eigenart, von der man bisher garantiert nichts wußte.

Karl P. N. Shuker versucht in seinem Werk die Phänomene dieser Erde auf ziemlich seriöse Art darzustellen. Er gliedert das Buch in sieben geographische Kapitel, die er in die sieben Bereiche Luft, Wasser, Elemente, Landtiere, Menschenähnlich, Orte und Übersinnlich einteilt. Er verzichtet dabei auf parapsychologische und außerirdische Phänomene (nur die Zahl 7 macht skeptisch). Jede Erscheinung wird beschrieben und entmystifiziert. Da das in vielen Fällen nicht möglich ist, bleibt die Lösung oft offen. Das Bemühen um Erklärung ist dennoch gegeben, wobei auch hier auffällig ist, daß die Faszination vor dem Geheimnisvollen, den unerklärbaren Phänomenen auch den Autor befallen hat. Shukers „Weltatlas der rätselhaften Phänomene" ist sehr aufwendig gestaltet und recht übersichtlich aufbereitet. Das Großformat, die zahlreichen Illustrationen und das umfangreiche Register sowie die Literaturverweise erweisen dem Buch einen guten Dienst: Es ist attraktiv und seriös zugleich.


Brittnacher, Hans Richard: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der fantastischen Literatur. Frankfurt, Suhrkamp, 1994. 358 Seiten.

Draculas Rückkehr. Hrsg. V. Arno Löb. Berlin, Ullstein, 1997. 259 Seiten.

Hamberger, Klaus: Mortuus non mordet. Dokumente zum Vampirismus 1689 bis 1791. Wien: Turia & Kant, 1992. 291 Seiten.

Mysteriöse Lebewesen. Ungeheuer in Tier- und Menschengestalt. Rastatt, Pabel-Moewig, 1994. 78 Seiten.

Shuker, Karl P. N.: Weltatlas der rätselhaften Phänomene. Eine illustrierte Darstellung des Mysteriösen. Bindlach, Gondrom-Verlag, 1996. 224 Seiten.

Trolle. Imaginiert und illustriert von Brian Froud. Erfaßt und erstellt von Terry Jones. Hildesheim, Gerstenberg, 1996. 126 Seiten. Aus dem Englischen übersetzt von Hans Wolf.


Wiener Zeitung, „Extra“, Freitag, 27. November 1998

zurück