PODIUM 161/162-2011
„Rezensionen“
nannte der viel zu früh verstorbene Brünner Lyriker Jan Skácel seine
poetischen Miniaturen, oft „malé recenze“, also kleine Rezensionen. Dabei
verwendete er die Rezension in ihrer ursprünglichen Form als Musterung, als
genaue Betrachtung, und Jan Skácel musterte und betrachtete die ganze Welt.
Eine seiner Musterungen nannte er „Rezension über die Wahrheit“: „Vladimír
Pazourek, der Bücher schreibt, ins Dampfbad geht und Fußball spielt, kam vor
kurzem, um mir mitzuteilen, dass heutzutage soviel getrunken wird, dass gar
keine Zeit mehr fürs Trinken bleibt.“
Nun, Rudolf Kraus schreibt Wahrheiten, 23 Wahrheiten, wobei er natürlich
schon bei der Titulierung an der Wahrheit rüttelt, die ja üblicherweise nur
als singuläre Erscheinung auftritt. Wie gesagt, Rudolf Kraus kommt auf 23,
dazu schreibt er noch eine paar Halbwahrheiten, und nach den Gesetzen der
empirischen Mathematik sind die ja überhaupt mit Halblügen gleichzusetzen.
So, und jetzt möchte ich zurückgreifen auf die griechische Mythologie mit
ihren Göttern, die nach Lust und Laune in ihren göttlichen Hadern entweder
einander zunicken oder sich gegenseitig die Zungen zeigen. Wie kümmerlich
hingegen ein auf einen Einzelgott zugeschliffenes System!
Und jetzt wieder zur Rudolf Kraus und seinen Wahrheiten. Manchesmal erkennen
sie sich, sie nicken einander freundlich zu, manchmal schwillt ihnen des
Zornes Ader und sie zeigen sich gegenseitig die Zungen. Das muss natürlich
herauskommen, wenn man weiß, dass man die Wahrheit nicht gepachtet hat und
ihrer 23 Versionen auf den Tisch purzeln lässt.
Die Wahrheiten sind kurz und lakonisch und bestehen aus des Pudels Kern. Im
vorliegenden Band gesellen sich zu ihnen die Sprachminiaturen, jene zwischen
Epik und Lyrik wogenden Einsprengsel, die ich allerdings eher als gebrochene
Epik bezeichnen würde. Anders als die Wahrheiten lassen sich die Miniaturen
öfters irgendwo ansiedeln, sie spielen in Meran, in Mutters Garten, im
Salettl, in der Hölle. Jede der Sprachminiaturen – ein Genre, welches
Rudolf Kraus sehr gerne pflegt -, hat seine Regeln, nein, hat des Autors
Regeln:
„wäre diese miniatur / ein gedicht / reim farb leb los / oder doch eine /
spielwiese fünfsiebenfünf / stünde sie nicht hier / triebe sich herum / im
halbgeistigem / könnte niemals ruhen“
Nun ruhen sie hier, mit luzider Klarheit und minimalistischer Deutlichkeit,
oft mit einem Schlusssatz, der den Anfangssatz verhöhnt. Und niemand möge
einen Bogen um die Miniaturen machen, weil er sich sonst verlieren würde im
Sprachstau des überflüssigen Gebrabbels.
Allerdings lautet der Untertitel des Bandes „Prosa & Sprachminiaturen“, und so sind den Miniaturtexten auch Prosatexte beigefügt. Sie spielen vor allem in der Piestingtaler Heimat des Autors und präsentieren ihn als genauen Beobachter und scharfen Analytiker, als erprobten Lykanthropen der Erinnerung. Freilich passen sie überhaupt nicht zu den Miniaturen, aber zieht man einen Strich unter den bisherigen Werken des Autors, so kann man über dem Strich seine Erzählungen nicht mehr missen.
Rudolf
Kraus: Worte kennen kein Gefühl. Prosa & Sprachminiaturen. Arovell Verlag,
Gosau, 2010. 153 Seiten.
Beppo Beyerl auf FIXPOETRY
Worte kennen kein Gefühl: Rudolf Kraus. Rez.: Klaus Ebner |
TEXTSAMMLUNG Worte
kennen kein Gefühl Zwischen 1984 und 2009 entstanden die Texte des 1961 geborenen niederösterreichischen Autors. Teils überarbeitet fanden sie Platz in diesem Bändchen: Kurzprosatexte und Gedichte. Ebenfalls enthalten ist eine längere Erzählung mit dem Titel Viesing, die sich wie eine Autobiografie liest und Ereignisse aus dem Leben eines Knaben aus dessen eigener Sicht wiedergibt. Da wird die Erhebung des Heimatdorfes zur Marktgemeinde ebenso als prägendes Erlebnis genannt wie der erste Zungenkuss, erzählt in lockerem Ton und mit Witz: »Ich lernte, dass in der Pubertät die Ewigkeit nur wenige Wochen dauern kann.« Schade, dass dieser Jugendbericht nicht noch weitergeht, denn es ist ein Genuss, ihm als Leser zu folgen. Die Gedichte, vom Autor als Sprachminiaturen bezeichnet, nehmen etwa die Hälfte des Buches ein. Im Gegensatz zur Prosa wird durchgehend Kleinschreibung verwendet, auf Satzzeichen wird verzichtet. »schnee bedeckte die schmutzige stadt/ein moment der unschuld/bis arglose männer/salz auf alte wunden streuten« heißt es da sprachspielerisch, und unter dem Titel männer: »täglich eine kröte geschluckt/minimum/verzweifeltes/immer cool bleiben baby/vor lauter ängsten/immer einen schritt zurück/kismet«. Alltagsbeobachtungen, ein Kommentar zur Rechtschreibung, Amerikaerfahrungen, und alles stets mit Augenzwinkern. Als abschließender Abschnitt ein gefühlvoller Prosatext und Gedichte zum Piestingtal, dem Tal der Großeltern, zu dem der Autor, wie er verrät, eine ganz besondere Beziehung hegt. Vom Pechen im Wald ist die Rede, dem die Kunstharzfabriken schließlich den Garaus machten. Viel Einfühlung und Besinnung, wie auch im Gedicht allerseelen in dürnbach: »diese stille birgt/den gesang der toten/wolkenmetamorphosen/dann und wann ein windstoß/heute leuchtet/der himmel/im rot/der koschenilleschildlaus«. etcetera 41/ Orte:wo/ Oktober 2010 - Klaus Ebner |
Kraus,
Rudolf:
Worte
kennen kein Gefühl
Prosa
& Sprachminaturen.
Gosau:
Arovell 2010. 162 S. kt. : €
12,90
(DL)
ISBN
978-3-902547-02-6
Rudolf
Kraus, Dichter und Bibliothekar (und den
Lesern
der „Bücherschau“ als Rezensent bekannt)
legt
hier eine weitere Auswahl von kleiner Prosa
und
Sprachminiaturen vor. Und wieder bietet er
neben
seinem anarchischen Witz und seinem Formbewusstsein
immer
wieder kluge, amüsante, leichte
und
zugleich tiefe Sprachspiele mit Widerhaken.
Seine
(selbst)ironischen Blicke richten sich dann
sowohl
auf autobiografische Begebenheiten, Alltagsmomente,
als
auch auf Bezüge zu Autoren, die
ihm
wichtig sind. Voraussetzung hierfür ist aber
eine
Art freier, unverstellter Blick, der im Streifen
von
traditionellen Bezügen, locker über die metaphorischen
Berge
anderer sich hinwegsetzt, um in
wenigen
Worten deren Essenz zu obduzieren.
Melancholisch
und lakonisch schildert er all die Gegebenheiten
mit
Wortwitz und Bravour, weil ihm
nichts
Menschliches, nichts Eigenartiges fremd ist:
„Die
Hitze lähmt meine Gedanken. Ich stelle mir
vor,
dass die Wirkung eines Klapperschlangenbisses
in
Death Valley bei 40 Grad Celsius trockener
Hitze
diesem Gefühl entsprechen könnte“.
Eine
Leseempfehlung für alle Sprachliebhaber, die
sich
an intelligentem Wortwitz laben können.
Bernhard Preiser in der Bücherschau (1/2011)
etcetera Oktober 2010
morgen 3/2010