Pressestimmen zu "versvermessung"


GEGENWARTSLITERATUR 3402

versvermessung

Lyrik wird gespeist aus einem Befinden, das als Ur-Ozean bezeichnet wird. Der Essayist Alexander Kluge vermutet von diesem Urzustand, dass er den Subjekten eine stabile Körpertemperatur vermittelt, die ungefähr bei 37 Grad liegt.

Rudolf Kraus rückt diesem poetischen Raum mit einer „Versvermessung“ auf den Leib. Dabei macht er sich die Fähigkeit von Lyrik zu Nutze, wonach diese gleichzeitig als Gesang, arithmetische Operation oder rhythmische Aktion auftreten kann.

Ein Blick auf die Gliederung dieser poetischen Masse lässt einen an einen „lyrischen Auszählreim“ denken:

- dreizehn Dreizeiler

- siebzehn Siebzehnsilber

- elf Elfsilber (Rukai, 3-5-3)

- fünf Fünfsilber, die Verknappung der Verknappung

- Suchbilder

- Silber

Armin Baumgartner stellt in seinem Nachwort drei Quellen vor, aus denen die Silben und Zeilen während der Vermessung sprudeln. Es sind dies Primzahlen, zu denen der Autor eine beinahe existentialistische Zuneigung pflegt, es sind dies die archaischen japanischen Formen der Reduktion, die sich vor allem in Haikus zeigen, und es ist schließlich die kühne Exotik eines H. C. Artmann, die eine Verbindung zwischen dem barocken Österreichischen und der fernöstlichen Koan-Kultur herstellt.

In einem Elfer-Gedicht beschreibt der Autor diese Vermessenheit: „mein schlichtes gedicht / ich weiß ihr glaubt es mir nicht / ist schlicht ein gedicht“ (11)

Selbst ein komplizierter Lebenslauf lässt sich nach dieser Methode des Eindampfens von Wortfeldern aufs kürzeste darstellen. „ich fühlte mich frei / als ich bad fischau verließ / bis mir brunn abging“ (14). Aus der biographischen Notiz über Rudolf Kraus ist zu entnehmen, dass sowohl Bad Fischau als auch Brunn wesentliche Stationen seines Werdegangs markieren.

An anderer Stelle werden persönliche Entwicklungen des lyrischen Helden mit allgemein gültigen Erfahrungen der Zeitgenossen verschränkt. „in den siebzigern / begann der bart zu wachsen / im ersten gedicht“ (29) […] „mir ist kalt / ach ich werde alt / ja steinalt“ (47)

Als Sicherungshaken im lyrischen Gelände sind stets Genre-spezifische Vermessungspunkte eingeschlagen. „kein / haiku ist / ich“ (63)

Und auch der obligate Vogel, der bekanntlich für die Zertifizierung von Gedichtbänden an geheimer Stelle eingesetzt werden soll, lässt sich bald ausfindig machen. „ein vogelkonzert / im duftenden bärlauchwald / ein specht sorgt für ruh“ (32)

Im hinteren Drittel huldigt die Lyrik dem visuellen Aspekt, indem die Suchbilder als rätselhafte Fotostrecke ausgelegt sind. Dabei ergeben die Bilder eine Story, die sich bei jeder Lektüre neu aufbaut. Aber auch die einzelnen Bilder sind als dramatische Screenshots lesbar, manchmal wirken sie wie Emoticons in schwarz-weiß.

- Enten im Wasser umkreisen einen Pflanzenstengel, der ihnen als frisch aufgestellter Maibaum dient.

- Ein unruhiges Ufer erodiert unter einem schweren Ast, der sich eben ins Wasser gelegt hat.

- Eine Windskulptur aus abgebrochenen Sensenblättern stellt sich auf und stürmt aus dem Bild heraus.

- Eine gereifte Person sitzt vor den Handgriffen eines Rollators frei auf einer Parkbank.

- Eine amorphe Metallplastik aus losen Dosen zitiert die Struktur eines Abfallhaufens.

In den abschließenden „silbern“ wird Lyrik noch einmal extrahiert, bis jenes konzentrierte Material vorliegt, das man in der Forensik als Quellmaterial für DNA-Recherche nutzt.

In den abschließenden Silbern sind nur mehr „epochale Sätze“ zugelassen: „epochal // früher war alles später / später war alles kaputt“ (97)

Manche Sätze haben das Zeug zu einem Gassenhauer oder Ohrwurm: „Wenn ich einmal / nicht mehr bin / ist’s auch nicht schlimm“ (98). Andere Zeilen aus der „Versvermessung“ bleiben auch nach Jahren intensiver Lektüre noch ein Rätsel. „so ein loch / bleibt stets ein rätsel / ist nie rund“ (54)

 

Rudolf Kraus: versvermessung. siebzehnsilber: senryu – haiku – dreizeiler elfsilber: rukai fünfsilber suchbilder silber. Fotos. Nachwort von Armin Baumgartner.

Wien: Verlagshaus Hernals 2024. 108 Seiten. EUR 23,90. ISBN 978-3-903442-62-7.

Rudolf Kraus, geb. 1961 in Bad Fischau, ist Schriftsteller und Bibliothekar in Wien.

Helmuth Schönauer 23/01/25


versvermessung

Die Texte seines neuen Lyrikbandes hat Rudolf Kraus auf ein stabiles Zahlengerüst aufgebracht: Da gibt es die vertrauten Siebzehnsilber in drei Zeilen, Haikus also, die ja gemäß eines seiner früheren Bücher gut schmecken, aber auch Tankas. In der Folge wird mit den Silben immer mehr gespart, schließlich können auch nur drei oder vier Worte ein Gedicht ausmachen. Zum Ende des Buches hin beginnt Kraus wieder ein bisschen zu urassen – gleich sieben Zeilen umfasst „baumsilber“ (S. 87):

baumsilber

baumschneider
baumkraxler
baumgartner

kein baum im ozean
wie macht der fisch
kein orca zitiert max frisch

Nun soll man Lyrik bekanntlich nicht mit der Küchenwaage oder einer Stricherlliste bewerten, geht es doch vordringlich darum, was zwischen den Wörtern und zwischen den Zeilen steht – dort, wo sich der Leser/die Leserin ihren eigenen Reim machen kann und gleich den Gefangenen in Nabucco „va pensiero, sull’ali dorate“ anstimmen.

Diese so induzierten Gedanken fliegen über ausgedehnte Felder, und deren Grenzpflöcke sind weit gesteckt: von einem See der Traurigkeit, den man gut kennen mag oder auch weniger gut, bis ans Ortsschild des Städtchens Calau.

Zwei Eckpfeiler dieser verdichteten Landschaft (S. 55 bzw. S. 93):

keine zeit
für die ewigkeit
ihr verzeiht

shakespeare trank schankbier
hamlet oder nicht king lear
warmes ale aus wales

Ergänzt hat der Autor seine Gedichtsammlung mit eigenen Fotos aus Natur und Kultur: Tümpel, Gräser, Straßenschluchten, Ottakringer-Dosen. Demgegenüber unterstreicht Armin Baumgartner in seinem kundigen Nachwort die Bedeutung von Zahlen und namentlich von Primzahlen – die 17 Silben des Haiku und die 31 des Tanka sind ja solche –, für die Literatur im Allgemeinen und für die Arbeit von Rudolf Kraus im Besonderen.

Ohne nun meinerseits die Riemannsche Vermutung zu bemühen, möchte ich sagen: Ob seiner knappen Form könnte man den Band wohl in der Schnellbahn zwischen Liesing und Süßenbrunn durchblättern, doch wäre dies weder angemessen noch ratsam – vielmehr frommt es der Leserschaft, sich mal von dem einen, mal von dem anderen Gedanken anstoßen zu lassen und dort, wo dies angezeigt – und von Rudolf Kraus wohl auch so gewollt – ist, zu schmunzeln oder unbekümmert zu lachen.

Erich Schirhuber (2025)

 

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